Gefangen in der eigenen Trauer
Wie fühlt sich deine Trauer an? Hätte man mich das in den ersten fünf Jahren nach Papas Tod gefragt, wäre die Antwort gewesen: Wie nasser Sand, den jemand über mich gekippt hatte und der mit der Zeit immer schwerer und schwerer wog. Er zerdrückte meinen Brustkorb, nahm mir die Luft zum Atmen.
Irgendwann umhüllte er meinen ganzen Körper, ich konnte mich kaum noch bewegen. Der Raum zwischen dem Sand und mir wurde von Tag zu Tag enger und egal, wie sehr ich auch versuchte, mich freizuschaufeln, fiel ich doch immer wieder in die Dunkelheit zurück. Ich konnte der Höhle nicht entkommen, mir selbst jedoch auch nicht.
Ich erinnere mich noch an den Tag, als meine Kraft endgültig nachgab. Ich war es so leid zu kämpfen. Und plötzlich war da dieser Gedanke: Wozu eigentlich kämpfen? Wofür lohnt es sich überhaupt? In diesem Moment bekam ich Angst vor mir selbst und wusste, dass ich mich nur mit Hilfe von außen aus meinem Gefängnis würde befreien können.
Trauer ist nicht das Problem, Trauer ist die Lösung
Viel zu viele Menschen fühlen sich mit ihrer Trauer überfordert und allein gelassen. Häufig fehlt der Zugang zum Thema, das in unserer westlichen Gesellschaft – im wahrsten Sinne des Wortes – oft totgeschwiegen wird. Expert:innen sagen jedoch: Eine nicht gelebte Trauer kann zum Trauma führen.
Es brauchte viel Geduld und die liebevolle Unterstützung anderer Menschen, bis ich mich aus all den Schichten Sand zurück an die Oberfläche gegraben hatte, bis ich endlich wieder frei atmen konnte. Und obwohl ich heute nicht mehr in der Höhle gefangen bin, trage ich einen Teil des Sandes immer noch bei mir. Er gehört jetzt zu mir.
Auch wenn sie wahnsinnig anstrengend ist und wehtut, Trauer muss gespürt werden. Sie ist ein wichtiger Teil des Prozesses, ebenso wie die Erkenntnis, dass Trauer nicht vorbei geht. Und das ist gut so. Denn Trauer hält die Erinnerung an unsere Verstorbenen am Leben.
Für ein freies Leben nach und mit dem Verlust
“Trauer dich frei” steht also nicht für einen Weg, an dessen Ende die Befreiung von der Trauer wartet. Es geht darum, ein Leben in Frieden mit dem Verlust zu finden. Ziel ist es, dass du deine Trauer besser verstehen, einordnen und als neuen Teil von dir und deiner Zukunft anerkennen kannst. Dies bildet den Grundstein für einen aktiven Umgang mit deiner Trauer. Außerdem entdecken wir die Ressourcen, die du in dir trägst, und entwickeln gemeinsam Ideen, wie es nach dem Verlust weitergehen kann. Von diesem Fundament aus kannst du dann gestärkt in den Neuanfang starten.
Weil Trauer in die Mitte unserer Gesellschaft gehört
Tod und Trauer sind Teil des Lebens. Dennoch werden sie in unserer Gesellschaft immer noch tabuisiert, weshalb uns der Umgang mit diesen Themen häufig schwerfällt. Ich träume von einer Gesellschaft, in der Tod und Trauer keine Tabuthemen mehr sind. In der sich trauernde Menschen nicht falsch oder allein gelassen fühlen und offen über wirklich alle Gedanken und Gefühle sprechen können, die mit ihrem Verlust einhergehen – ohne Angst davor haben zu müssen, bewertet oder nicht verstanden zu werden. Eine Gesellschaft, die Betroffene nicht meidet, sondern sie auffängt und auf ihrem Weg durch die Trauer begleitet. Eine Gesellschaft, die Trauer als das sehen kann, was sie ist: Ein Ausdruck der Liebe, die wir für unsere Verstorbenen empfinden.